Wonach bist du süchtig? Eine Einladung zur digitaler Achtsamkeit

Könntest du ohne deinen PC oder dein Smartphone leben? Ohne WhatsApp? In diesem Blog ziehe ich mein Fazit nach drei Jahren ohne WhatsApp. Ich reflektiere, wie ich «Freunde verliere» und Lebenszeit gewinne. Ebenso denke ich darüber nach, wie ich smarter mit meinem Handy und digitalen Versuchungen umgehe. Denn neulich las ich einen Satz, der mich nachhaltig dazu inspiriert. Und dann folgt eine ganz andere Erkenntnis, als dass ich erwarte.

 

Sind wir nicht alle ein wenig süchtiger, als dass wir denken?

Ich wage das Gedankenexperiment, auf welche materiellen Dinge ich nicht verzichten will oder kann. Handy und Laptop landen oben auf der Liste. Gehören Kontaktlinsen auch dazu, frage ich mich? Und die Matratze zum Schlafen? Mein iPhone landet so oder so in meinen «Top 20», weil es mein Leben erleichtert und ich das Bedürfnis habe, verbunden zu sein.

Doch was ist mit all dem, was das Smartphone auch kann, mein Leben aber nicht erleichtert, sondern unnötig befüllt, chaotischer macht, stört?

Die vielen Nachrichten, die sozialen Medien, die ungefragten Vorschläge. Problematisch sind auch die Gewohnheiten, die sich in meiner Unachtsamkeit einschleichen: Das Insta-Scrollen während kurzen Pausen. Meine eigene Orientierung an GPS auslagern. Nicht nachzudenken, weil Google und ChatGPT so verfügbar sind.

Also stellt sich mir die Frage: Wo ist mein Smartphone dienlich, wo hinderlich? Wo ist der Konsum schlecht oder mündet in einer Sucht oder in einer Vorstufe davon? Dazu stelle ich mir Fragen wie diese:

  • Wann suche ich mein Handy, auch ohne einen konkreten Grund dafür zu haben?

  • Warum habe ich mein Handy ständig in der Hand?

  • Wie beeinflusst das Handy meine Stimmung und mein Wohlbefinden?

  • Verschwende ich Zeit auf dem Handy, die ich anders nutzen könnte?

  • Wie fühle ich mich, wenn ich mein Handy nicht bei mir habe oder nicht finde?

Mein Fazit: Ich habe mein Smartphone zu viel bei mir. Ich bin noch zu sehr darauf fokussiert, nichts zu verpassen, auch wenn ich die meisten Notifications ausgestellt und WhatsApp wie auch Facebook und andere sozialen Medien verlassen habe. Als süchtig erachte ich mich nicht. Denn zuhause lasse ich es oft liegen und weiss nach einiger Zeit nicht mehr, wo es ist. Dennoch gibt es viel Potenzial, besser damit umzugehen. Und bei dir? 

Wenn ich am Handy bin, bin ich nicht mit mir verbunden

Um meinen Handykonsum zu optimieren, stellt sich mir noch immer die Frage, wozu es dienlich ist und wo es mich ablenkt. Und bei dieser Frage ist die Antwort einfach: Es gibt viele Praktikabilitäten, auf die ich nicht verzichten möchte: Online Tickets kaufen, mein TIER Trotti zwischen Terminen nehmen, Adressen suchen. Im Gegensatz dazu sind es die sozialen Medien und Messengers, die mich von mir ablenken.

Wenn ich das Leben anderer anschaue oder mit Konsum befasse, bin ich nicht mit mir selbst verbunden.

Diesen Satz lese ich sinngemäss in einem Erfahrungsbericht einer handysüchtigen Frau, die ihr Smartphone verkauft und sich ein Mobiltelefon kauft. Nach einem Jahr zieht sie Fazit und realisiert, nebst vielem anderen, wie klar sie mental ist, wie ruhig und fokussiert. Dass sie in ihren Gesprächen präsenter und empathisch ist. Das inspiriert mich.

Ich lerne, dass es ihr viele Menschen gleichtun und auf Smartphones verzichten. Offenbar besitzt der Schauspieler Chris Pine kein Smartphone. Er bevorzugt es, in seiner Freizeit nicht ständig erreichbar zu sein. So auch Anna Wintour: Die Chefredakteurin der US-amerikanischen Vogue ist dafür bekannt, dass sie ein einfaches Handy ohne Internetzugang verwendet. Sie bevorzugt es, persönlich und fokussiert zu bleiben.

Das regt mich dazu an, darüber nachzudenken, was mit mir passiert, wenn ich das Handy suche, ohne einen Grund dafür zu haben, um zum fünften Mal Instagram oder meine Mails zu checken, die ich vor fünf Minuten angeschaut habe:

Ich lenke ich mich von mir selber ab. Ich fühle nicht, was ich fühle. Ich denke nicht darüber nach, wie ich die Ideen, die ich habe, weiterentwickle. Ich bin nicht kreativ. Ich spüre meinen Körper nicht.

Diese Erkenntnis schmerzt mich, denn bisher habe ich meinen Umgang mit dem Handy nie als Konkurrenz zur Verbindung zu mir selbst gesehen.

Gibt es Studien dazu? Ich suche nach Fakten zu psychologischer Entfremdung von sich selber durch übermässigen Handykonsum und werde finde Folgendes:

  • Studien, wie die von Harvard-Forschern, zeigen, dass die Nutzung von Smartphones vor dem Schlafengehen, insbesondere die exzessive Nutzung von sozialen Medien, mit einer schlechteren Schlafqualität und einer längeren Einschlafzeit verbunden ist.

  • Studien, wie die von der California State University, Fullerton, zeigen, dass die ständige Erreichbarkeit durch das Smartphone zu erhöhtem Stress und Angstgefühlen führen kann.

  • Zu psychologischer Entfremdung finde ich nichts Explizites. Viel mehr finde ich Studienergebnisse zu sozialen Situationen, wie beispielsweise eine Studie der Virginia Tech, die zeigt, dass die blosse Anwesenheit eines Smartphones in sozialen Situationen zu einer Verringerung der Qualität und Tiefe von Gesprächen führen kann. Dies kann zu einem Mangel an Empathie und Verbindung führen.

 Alles nachvollziehbar und gut, mir das klar zu vergegenwärtigen.

Darum verlasse ich 2021 WhatsApp, verliere «Freunde», gewinne Lebenszeit

Natürlich ist diese Realisation, dass das Handy nicht nur gut tut, nicht neu. Vor drei Jahren an einem Abend in der Lenzerheide entscheide ich vor allem aus Zeitgründen, WhatsApp zu verlassen. Die schiere Menge an Nachrichten, die ich nicht mehr beantworten kann, stresst mich. Obwohl ich die meisten Gruppenchats ignoriere, sitze ich oft abends über eine Stunde am PC und beantworte zum Teil auch wochenlang liegen gelassene Nachrichten. Dann entscheide ich, meine Zeit anders zu investieren.

Meine Entscheidung beeinflusst jedoch auch Menschen um mich. So muss meine Tennismannschaft beispielsweise auf einen iMessage-Gruppenchat wechseln. SMS mit androiden Geräten sind herausfordernder. Ob ich denn Threema, Telegram oder einen anderen Messenger hätte? Nein, sonst hätte ich das Problem nur verlagert. Ich gebe zu, dass es für viele ziemlich mühsam ist, mit mir zu kommunizieren. Auch sonstige Chats, die meine Tochter betreffen, sind auf WhatsApp. So müssen mich andere einzeln über Wichtiges informieren.

Nach einiger Zeit ohne WhatsApp passiert es, dass ich mit entfernteren Bekanntschaften gänzlich den Kontakt verliere. Ist das schlimm? Nein, ich denke immer noch an einige von ihnen und «schicke gute Gedanken». Ich gewinne Lebenszeit, denn meine Zeit am Handy reduziert sich drastisch. Auch wenn es über die Monate Umwege erfordert und Standfestigkeit braucht, nicht wieder zurückzugehen, wenn ich meist die einzige bin, die kein WhatsApp hat.

Wieder zurück im Heute, drei Jahre nach dieser Entscheidung, denke ich noch immer daran, wie ich verbundener mit mir sein kann und mehr Zeit in das investiere, was mich erfüllt. Und dann realisiere ich etwas banales und dennoch Unerwartetes.

Ich bin nicht süchtig nach meinem Smartphone, sondern nach etwas anderem

Nach all diesen Überlegungen merke ich: Bei meinem Umgang mit dem Handy habe ich nicht viel Optimierungspotenzial. Instagram könnte ich etwas weniger nutzen, doch nutze ich es noch immer viel zu selten, als dass mir ein anderer Umgang damit viel Zeit zusätzliche Zeit für mich und Lebensqualität bringen würde.

Und so wird mir auf einmal bewusst: Nach dem Handy bin ich nicht süchtig, doch bin ich es nach meinem PC. Alle, die mich kennen, wissen: Wenn ich einen 15-minütigen Weg vor mir habe, dann ist mein PC mit dabei. Denn in diesen kostbaren 15 Minuten kann ich vieles erledigen. Und selbst in Nachsicht mit mir, dass ich Mutter bin, zwei Firmen habe und immer vielseitig interessiert und ambitioniert bin: Ich bin süchtig nach meinem PC. Präziser:

Ich bin süchtig nach Produktivität.

Diese Sucht ist nicht besser als der übermässige Handykonsum. Auch wenn sie in unserer Gesellschaft salonfähig ist. Denn Produktivität und Beanspruchung ist bei uns ein Statussymbol: Wer am meisten Stress hat, ist am Wichtigsten. Ich bin sehr wichtig.

Die Sucht, jede freie Minuten nutzen zu wollen, schneidet mich genauso von mir ab. Und auch wenn es eine mich treibende und mir wichtige Werthaltung ist, zu wachsen, mich weiterzuentwickeln, tut mir meine extensive PC-Nutzung nicht gut. Nicht, weil ich mich erholen muss. Sondern weil ich dann andere Seiten an mir entdecken will. Weil ich weiss, dass ich kreativer bin, wenn ich nicht jede Minute fülle.

Die Frage, was also meine nächste digitale Optimierung ist, beantwortet sich nicht über meinen Handykonsum, sondern über meinen Produktivitätswahn, den ich vor allem durch meinen PC stille. Wie finde ich ein besseres Verhältnis zu meinen PC und meiner Grundhaltung, jede freie Minute zu füllen? So verändert sich meine Initialfrage rund um «Digital Detox» oder «Digital Mindfulness» weg von einer taktischen, hin zu einer Haltungsfrage. Wie will ich meine Zeit nutzen? Wenn Produktivität und Weiterentwicklung als «oberste Maxime» hinfällig ist, welcher Wert folgt danach?

Motive, Werthaltungen, Konditionierungen: Das sind tief eingeprägte Muster, die mehr als kosmetisch oberflächliche Taktiken brauchen, um sie zu verändern. Daher muss ich eine Entscheidung treffen, die auf Motivebene ansetzt. 

Selbstbegegnung anstelle der Produktivität

Ich treffe eine Entscheidung:

Ich will kreieren, nicht reagieren. In meinem bis auf fünf Minuten optimierten Kalender jage ich Meetings und Minuten hinterher. Dies lässt mir wenig Spielraum, um frischen Ideen nachzugehen, kreativ zu sein.

Stattdessen will ich bewusste Leere erzeugen, um mich selbst wahrzunehmen und dem nachzugehen, was ich möchte. Wenn ich 80 Jahre alt bin, auf der Bank sitze und mich meine Enkel nach meinem Leben fragen, werde ich nicht mit Stolz erfüllt sagen: Ich war produktiv! Ich habe jede freie Minute genutzt! Stattdessen möchte ich sagen können: Ich hatte ein erfülltes Leben und bin meinem Herzen gefolgt.

Natürlich werde ich weiter arbeiten, denn ich liebe meine Arbeit. Doch will ich mehr Freiraum für Kreation schaffen. Dies erfordert viele Entscheidungen und Aktionen: 

  • Besser planen: Ich muss meine Projekte anders planen. Denn ich unterschätze deren Aufwand erfahrungsgemäss und nehme zu viele Projekte an. Damit einher geht der Mut, nein zu sagen.

  • Freiräume schaffen: Ich setze Blocker in meinen Kalender mit Halbtagen, an denen ich keine Termine annehme und blockierten Tagen, Wochenenden oder Wochen, die ich gezielt freinehme und mir Zeit für anderes nehme.

  • Grenzen setzen: Nach einem Arbeitstag fahre ich den PC bewusst runter und ziehe damit auch den kognitiven Strich unter die mentalen To-Do-Listen, die unendlich sind. Innere Saboteure stummschalten, die mir weiss machen wollen, dass ich ohne Produktivität wertlos bin.

  • Mutig sein: Meinen PC nicht überall hin mitnehmen, auch wenn ich mich, zugegebenermassen, sehr nackt ohne fühle. Da gehe ich schon lieber ungeschminkt aus dem Haus.

Dieses Beispiel zeigt, dass es mehr als Verhaltenstaktiken braucht, um nachhaltige Veränderung zu schaffen – egal, was du transformieren willst. Ich bin auf jeden Fall gespannt, was ich Neues entdecken werde, wenn ich mich nicht immer hinter meinem PC verschanze. Mehr Achtsamkeit und Präsenz? Tiefere Gespräche? Reduzierter Stress? (Wieder-)Entdeckung von Hobbies?

Erkenne das Motiv und du kommst weit

Ich empfehle dir, dich dieser Selbstanalyse, der ich mich anhand dieses Blogs unterzogen habe, ebenfalls zu unterziehen. Reflektiere deine Beziehung zu deinen digitalen Geräten. Was auch immer deine Sucht oder das ist, was du optimieren möchtest, hier kommen meine Erkenntnisse, die dich auf deinem Weg unterstützen:

  1. Definiere das Problem: Was ist das Verhalten, das du ändern möchtest? Wie beispielsweise deinen Umgang mit deinem Smartphone oder PC.

  2. Finde das Motiv: Was ist das zugrundeliegende Motiv, das dein Verhalten begünstigt? Wie beispielsweise der Wunsch nach Verbindung oder der Drang noch Produktivität.

  3. Formuliere deine Maxime: Was wünschst du dir, wozu entscheidest du dich? Beispielsweise für mehr Freiraum oder mehr Kreativität.

  4. Passe dein Verhalten an: Wie musst du dich verhalten, damit du deine Lebensweise anpasst? Wie beispielsweise Blocker im Kalender und eine andere Projektplanung.

Damit kommst du weit! Denn viele Menschen versuchen, mit Schritt 4 Veränderung zu erzeugen. Doch die Schritte 1 bis 3 sind es, die dich nachhaltig weiterentwickeln lassen. Viel Erfüllung bei deiner nächsten Transformation!

PS: Übrigens habe ich diesen Blog unter anderem mit dieser Aussicht geschrieben. Widerspricht dies nun meinen Überlegungen, weil ich an diesem Ort den PC dabei habe? Keineswegs. Denn ich war kreativ und hab den Blog geschrieben, weil ich Lust dazu hatte und mir dafür bewusst einen schönen Ort ausgesucht habe.

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