Fokus oder Freiheit? Was uns Vorsätze nutzen und was sie uns kosten
Viele nutzen die Zeit zwischen den Jahren intensiv für Selbstreflexion und dafür, Vorsätze und Ziele fürs neue Jahr zu setzen. Gestern habe ich Freunde und Bekannte gefragt, ob sie Vorsätze fürs neue Jahr fassen. Das haben 79% bejaht, 21% verneint. Ich gehöre zu den 79%. Seit vielen Jahren setze ich mir Vorsätze und halte sie für wichtig, um fokussiert zu sein und meine Ressourcen einzuteilen. Doch werde ich dadurch blind für andere Möglichkeiten auf meinem Weg oder setze mich unnötig unter Druck? Wieviel «opfere» ich, um erstrebenswerte Ziele zu erreichen? Eine spannende und philosophische Frage, an der ich mich in diesem Blog versuche.
Vorteile von Vorsätzen? Fokus und Orientierung.
Als erste Fragen habe ich mir überlegt, welche Vorteile durch Vorsätze entstehen, die so viele Menschen zum Beginn des neuen Jahres gefasst haben. Diese kann ich mir vorstellen:
Neuanfang: Der Jahreswechsel bietet eine symbolische Gelegenheit für einen Neuanfang. Viele von uns nutzen diesen Zeitpunkt, um positive Veränderungen in unseren Leben vorzunehmen und um uns zu motivieren. Mit dem Wechsel des Kalenderjahrs lassen wir Ungewolltes zurück und konzentrieren uns darauf, was wir uns wünschen.
Selbstverbesserung: Neujahrsvorsätze sind oft mit dem Wunsch nach persönlicher Entwicklung und Selbstverbesserung verbunden. Dies kann zu positiven Veränderungen in der Lebensweise, der Gesundheit oder anderen Lebensbereichen führen.
Zielsetzung und Fokus: Vorsätze können dabei helfen, klare Ziele für das kommende Jahr zu setzen. Dies kann uns helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und unsere Ressourcen einzuteilen.
Alle Vorteile nutze ich für mich. Denn ich setze seit vielen Jahren diese Vorsätze. Meine bestehen aus einer bildhaften Vision, aus einer Auflistung von konkreten Zielen für das neue Jahr und einem Leitsatz oder Motto. Alles trage ich stets bei mir, weil ich noch immer kaum ohne mein Tagebuch aus dem Haus gehe. Doch habe ich mir angewöhnt, dass ich meine Ziele jeweils im OneNote dokumentiere, denn so sind sie mir immer zugänglich, auch wenn ich das nächste Tagebuch begonnen habe.
Was dann geschieht: Ich vergesse meine Ziele, zumindest bewusst. Nur um ein paar Monate später festzustellen, dass ich meine Ziele viel schneller erreicht habe, als ich für möglich gehalten habe. Und genauso geht es Freund:innen und Kund:innen: Sie sind immer wieder erstaunt, wie schnell sie Ziele und damit Vorsätze erreichen, die sie noch vor Kurzem als sehr herausfordernd gehalten haben. Somit profitieren wir vom Fokus, wie auch vom Orientierungsrahmen, den uns Vorsätze geben: Die zahlreichen Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen, treffen wir gemäss Vorsätzen und Zielen.
Nachteile von Vorsätzen? Misserfolge, Druck und mangelnde Flexibilität.
Doch die Frage bleibt: Was verpasse ich durch meine sehr strukturierte, fokussierte Vorgehensweise? Bin ich noch flexibel genug, um auf das Leben zu reagieren, Schönes zu erkennen, meine Ziele anzupassen oder gar über den Haufen zu werfen? Diese möglichen Negativfaktoren habe ich bereits bei mir selbst oder im Umfeld beobachtet:
Unrealistische und unkonkrete Erwartungen: Manchmal setzen wir uns zu hohe Ziele, die schwer zu erreichen sind. Das kann enttäuschen und frustrieren. Genauso wie zu allgemeine und unkonkrete Vorsätze, die uns unterschwellig verwirren.
Druck und Stress: Der Druck, die Vorsätze zu erfüllen, kann Stress verursachen. Dieser Stress kann kontraproduktiv sein und dazu führen, dass wir unsere Ziele aufgeben.
Zeitpunkt für Veränderungen: Die Idee, nur zu bestimmten Zeitpunkten im Jahr Veränderungen vorzunehmen, kann dazu führen, dass wir Gelegenheiten verpassen, positive Veränderungen sofort umzusetzen, wenn wir sie erkennen.
Alles schon erlebt. Doch meine übergreifende Frage bleibt unbeantwortet: Wie viel kostet mich mein Fokus? Als Psychologin suche ich als nächstes nach Antworten in der Neurophysiologie.
Vorsätze aus neurophysiologischer Sicht? Dopamin-Freuden oder Ego-Depletion.
Aus der Neurophysiologie weiss ich, dass das Festlegen wie auch Erreichen von Zielen, wie es bei der Umsetzung von Vorsätzen der Fall ist, das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren kann. Die Ausschüttung von Dopamin, einem Neurotransmitter, der mit Freude und Belohnung in Verbindung steht, kann motivierend wirken und das Verlangen nach dem Erreichen der gesetzten Ziele steigern.
Dabei spannend ist der Begriff der «Neuroplastizität»: Das Gehirn ist in der Lage, sich durch Erfahrungen zu verändern. Das Setzen von Vorsätzen und die konsequente Umsetzung können dazu beitragen, neue neuronale Verbindungen zu schaffen und positive Verhaltensweisen zu festigen. Analog zum Prozess, wenn wir ins Gym gehen und neue Muskeln aufbauen, tun wir dasselbe mit unseren neuronalen Muskeln im Gehirn.
Gleichzeitig kann das Erreichen von persönlichen Zielen zu einer Verringerung von Stresshormonen im Gehirn führen. Dies trägt zu einem insgesamt verbesserten emotionalen Wohlbefinden bei. Umgekehrt kann aber übermässiger Druck, den wir durch unrealistische Neujahresvorsätze oder deren Nichterreichen empfinden, das Stresshormon Cortisol ausschütten.
Die Umsetzung von Vorsätzen erfordert zudem Willenskraft, die jedoch begrenzt ist.
Nach einer Phase intensiver Willensanstrengung kann es zu «Ego-Depletion» kommen, was bedeutet, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Willenskraft vorübergehend erschöpft ist.
Auch hier finde ich keine eindeutige Antwort. Die Sicht der Hormone machen mir jedoch bewusst, wie wichtig es ist, in Balance zu bleiben, das richtige Mass von Motivation versus mich unter Druck zu setzen zu finden. Also habe ich mir noch einige philosophische Grundsätze hinzugezogen, um die Frage zu Nutzen und Kosten meiner Vorsätze abzuwägen.
Die goldene Mitte? Kontrolliere das Beeinflussbare und sei achtsam in der Gegenwart
Fündig bin ich beim Stoizismus geworden: Die stoische Philosophie betont die Kontrolle über die eigenen Reaktionen auf externe Umstände. Stoiker argumentieren, dass man sich auf Dinge konzentrieren sollte, die unter der eigenen Kontrolle stehen, und gleichzeitig flexibel und gelassen gegenüber den Unwägbarkeiten des Lebens bleiben sollte. Dies könnte bedeuten, dass wir uns auf bestimmte Ziele konzentrieren, aber auch die Fähigkeit entwickeln sollten, uns anzupassen, wenn sich die Umstände ändern.
Existentialisten wie Jean-Paul Sartre, den ich während meiner Gymnasialzeit widerwillig lesen musste, betonen die individuelle Freiheit und Verantwortung. Die Idee, dass das Leben keine vorbestimmte Bedeutung hat und wir selbst unsere Existenz gestalten müssen, könnte bedeuten, dass zu viel Fokus auf vordefinierten Zielen die Freiheit einschränken könnte. Oder aber genau das Gegenteil: Dass man sein Leben sehr aktiv gestalten soll, unter anderem auch mit Vorsätzen.
Dahingegen lehrt uns die Zen-Philosophie Achtsamkeit und das Leben im gegenwärtigen Moment. Zu viel Fokus auf zukünftige Ziele kann uns von der Gegenwart ablenken. Zen-Buddhisten könnten also argumentieren, dass man sich zwar Ziele setzen kann, aber gleichzeitig im Hier und Jetzt präsent sein sollte, um das Leben in seiner Fülle zu erfahren.
Kontrolle und gleichzeitige Achtsamkeit – ein Gegensatz? Nein, ein kunstvolles Komplement, in dem wohl die Kunst des Lebens liegt.
Was dir wichtig ist und wie du dein Leben gestaltest, ist von deinen Werten abhängig.
Fazit? Deine Werte bestimmen deinen Vorsatz.
Wie viel Fokus durch Vorsätze sinnvoll ist und wie hoch die Kosten dafür sind, hängt stark von den individuellen Überzeugungen und Werten ab. Ein ausgewogener Ansatz kann darin bestehen, klare Ziele zu haben, aber gleichzeitig offen für Veränderungen und neue Erfahrungen zu bleiben, um die Breite und Tiefe des Lebens zu erkunden.
In meinen letzten Jahren habe ich meine eigene Selbstreflexion stark systematisiert und verstärkt. Ich liebe es, über das Leben nachzudenken, von anderen zu lernen und meinem Leben eine Richtung zu geben. Gleichzeitig ist es mir bewusst, dass mein Fokus einen Preis hat. Diese beiden Beispiele illustrieren das in einfacher Weise:
Wenn genügend und guter Schlaf eine meiner Prioritäten ist, dann verpasse ich während dem vielen Schlaf das «wach bewusste Leben». Ich verpasse Parties, Dinners und Begegnungen. Ja, ich weiche ihnen bewusst aus, weil ich für mich entschieden habe, dass meine bewusste Zeit für mich häufig am Morgen stattfindet, wenn andere schlafen. Für mich also eine bewusste Entscheidung, die meinen Werten entspricht.
Wenn ich eine schöne lang ersehnte Reise einer Weiterbildung vorziehe, dann ist dies ebenso eine wichtige Entscheidung, die ich im Rahmen meiner Werte und Vorsätze fälle und mich dadurch entscheide, die eine oder andere Lebenserfahrung in der Zeit, die mir bleibt, zu machen.
Ich glaube, dass uns alles im Leben etwas kostet. Nur ist es häufig in unserer Gesellschaft so, dass wir «Pleasures» als erstrebenswerter erachten als Unangenehmes, das kurzfristig mühsam sein kann, uns aber langfristig weiterbringt.
So finde ich beispielsweise die Kosten meines bitteren Grünsaftes, der im wesentlichen pürierter Salat ist, wesentlich kleiner als die Effekte im Wohlbefinden, die ich später durch den regelmässigen Konsum geniesse. Auch das ist eine Werthaltung.
Und so glaube ich, ist das der Schlüssel: Was ist dir wichtig, was sind deine Werte? Dann wählst du deine Vorsätze so starr oder flexibel, wie es deinen persönlichen Werten entspricht. Gleichzeitig bleibst du offen für die Schätze, die sich dir auf dem Weg zu deinen Zielen offenbaren. Und wenn Flexibilität ein für dich wesentlicher Lebenswert ist oder du dazu tendierst, dich selbst zu sehr unter Druck zu setzen, dann sind Vorsätze nichts für dich.